
"Sprechen Sie mit mir, ich bin Arzt"
Von Mertcan Usluer
Aus „Der Spiegel“ am 23.10.2024
Zum Autor
Mertcan Usluer arbeitet als Gynäkologe in einem Kölner Krankenhaus. Auf Instagram und TikTok klärt er als @Gynaekollege über sein Fachgebiet auf, bei Instagram folgen ihm mehr als 100.000 Menschen.
Einleitung
Sie stehen vor dem Behandlungszimmer, Ihr Herz klopft, Ihr Kopf ist voller Fragen, und plötzlich fällt Ihnen kein Wort mehr ein? Keine Angst, Sie sind nicht allein! Ein Arztbesuch ist für viele Menschen eine Herausforderung. Aber mit ein paar einfachen Tipps können Sie die Scham überwinden, Ihre Symptome souverän erklären, die richtigen Fragen stellen und so deutlich bessere Antworten bekommen als von Dr. Google.
Richtig reden für die richtige Diagnose
Tipp 1: Einkaufszettel für den Körper
Stellen Sie sich vor, Sie gehen in den Supermarkt. Ohne Einkaufszettel vergessen Sie vieles oder kaufen Dinge, die Sie gar nicht brauchen. Genauso ist es beim Arztbesuch. Da sind viele Menschen nervös und wissen nicht mehr, was sie eigentlich fragen wollten. Und dann fällt es ihnen erst zu Hause wieder ein. Mit einer vorher geschriebenen Liste Ihrer wichtigsten Fragen, Sorgen und Probleme haben Sie alles im Blick und vergessen nichts Wichtiges.
Wir Ärztinnen und Ärzte haben natürlich auch unsere Spickzettel, damit wir wirklich alle wichtigen Fragen stellen und uns einen ganzheitlichen Eindruck von dem Menschen machen können, der vor uns sitzt.
Tipp 2: Ihr Körper spricht – hören Sie ihm zu
Pro Sekunde werden etwa elf Millionen Sinneseindrücke in unserem Gehirn verarbeitet – davon nehmen wir jedoch nur etwa 40 bewusst wahr. Wenn Ihr Körper Ihnen Signale wie Schmerzen, Juckreiz oder Müdigkeit gibt, versucht er Ihnen zu sagen: Hier stimmt etwas nicht!
Je genauer Sie diese Beschwerden schildern können, desto besser können sich die Ärztin oder der Arzt ein Bild von Ihrem Problem machen.
»Mein Bauch tut weh« ist sicher nicht falsch, aber es gibt viele verschiedene Gründe für Bauchschmerzen. Wenn Sie beispielsweise bemerken, dass die Schmerzen eher ein Ziehen sind und vor allem nach dem Essen auftreten, bringt uns das bereits ohne aufwendige Diagnostik deutlich näher ans Ziel: die richtige Diagnose, das Ende der Schmerzen.
So können Sie Ihre Beschwerden gut beschreiben:
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Verwenden Sie bildhafte Sprache: eher ein Messer im Bauch oder kleine Nadelstiche?
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Geben Sie einen Zeitrahmen an: Seit wann haben Sie Schmerzen? Wie lange dauern sie an? Kommen sie periodisch oder sind sie konstant?
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Beschreiben Sie die Intensität: 0 für gar keine Schmerzen, 10 für die schlimmsten vorstellbaren Schmerzen.
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Nennen Sie auslösende Faktoren: Zum Beispiel bei Stress, nach Belastung oder immer vor der Periode.
Je genauer Sie Ihre Beschwerden beschreiben, desto schneller finden wir gemeinsam eine Lösung.
Tipp 3: Auch beim Diagnose-Puzzle mit den Randstücken anfangen
Es ist nicht immer einfach, aktuelle Symptome, mögliche Auslöser und Vorerkrankungen perfekt zu trennen. Doch je gezielter und chronologischer Sie Ihre Krankheitsgeschichte erzählen, desto besser können Ärztinnen und Ärzte die wertvollen Hinweise einordnen, die zu einer präzisen Diagnose führen.
Informationen über Symptome und Vorgeschichte sind wie Puzzlestücke. Wir puzzeln die Diagnose daraus zusammen. Dabei hilft uns immens, wenn Sie zu Beginn die Randstücke sammeln und irrelevante Teile aus anderen Puzzlesets aussortieren. Randstücke sind für uns zum Beispiel, was Sie über die Dauer, Intensität und Auslöser der aktuellen Beschwerden schildern. Danach interessieren uns Vorerkrankungen, Operationen, regelmäßige Medikamente und Allergien. Gemeinsam entscheiden wir dann, ob weitere Details nötig sind, um das Puzzle zu vervollständigen.
Profitipp fürs Sammeln von Puzzlestücken: Durch die zeitliche Einordnung von Symptomen können wir Muster und Verläufe erkennen sowie Zusammenhänge herstellen. Da die allermeisten Menschen aber vergesslich sind, können beispielsweise Notizen zu Symptomen, Schmerztagebücher oder Zyklus-Apps hilfreich sein, die Erinnerung aufzufrischen.
Tipp 4: Reden ist Silber, Fragen ist Gold
Viele Menschen sind nach einem Arztbesuch verwirrt oder haben das Gefühl, nicht alles verstanden zu haben. Das ist ganz normal, wenn Ärztinnen oder Ärzte sich in Fachterminologie und Diagnosekatalogen verrennen. Doch niemand sollte nach Hause gehen, ohne verstanden zu haben, was mit dem eigenen Körper passiert.
Wenn Sie etwas nicht verstehen, dann fragen Sie bitte nach! Es gibt keine dummen Fragen, aber es gibt ungeklärte Sachverhalte. Nur wer gut informiert ist, kann selbstbestimmte Entscheidungen über die eigene Gesundheit treffen – und das zu ermöglichen, ist eines meiner Hauptziele als Arzt.
Überlegen Sie sich vorher, welche Fragen Sie auf jeden Fall stellen wollen. Sie sollten beim Verlassen der Praxis sicher sein, dass Sie Diagnose, Behandlungsoptionen und Nebenwirkungen im Detail verstanden haben.
Umgang mit Unangenehmem beim Arzt
Tipp 5: Schämen Sie sich nicht und lassen Sie sich begleiten, wenn Ihnen das Sicherheit gibt
Viele Menschen scheuen sich, über bestimmte Beschwerden offen zu sprechen. Als Arzt in der Gynäkologie ist es für mich normal, über den Intimbereich, Infektionen oder die Verhütungswahl beim letzten One-Night-Stand zu reden. Es ist okay, wenn Ihnen das schwerfällt.
Meist hängt Scham zusammen mit der Angst, verurteilt zu werden. Offen, ehrlich und auf Augenhöhe zu kommunizieren, hilft. In erster Linie sollten Sie sich wohlfühlen. Sie können immer auch eine vertraute Person mitbringen, wenn Sie sich dadurch wohler fühlen.
Außerdem können Sie sicher sein, dass Ihre Beschwerden für uns nichts Neues sind und sicher kein Grund, sich zu schämen. Wir haben schon (fast) alles gesehen. Außerdem ist es für uns völlig egal, ob Sie rasiert sind, Pickel am Po haben oder welche Farbe Ihre Unterwäsche hat.
Tipp 6: Sie haben ein Recht auf gute Behandlung – fordern Sie sie ein
Gesundheitspersonal ist überarbeitet, unterfinanziert und kompensiert strukturelle Mängel mit Überstunden. Zu wenig Zeit und Personal kann dazu führen, dass Menschen sich »abgefertigt« und falsch verstanden fühlen.
Doch nur weil im Gesundheitssystem viel falsch läuft, sollten niemals Menschen schlecht behandelt werden. Oft leiden vor allem diejenigen Patientinnen und Patienten unter den strukturellen Problemen, die bei Themen wie Sprachbarrieren, finanziellen Zuschüssen, Barrierefreiheit oder Geschlechtssensibilität »aus der Norm fallen«.
Manche fürchten sogar, zu viel Geld, Aufmerksamkeit und Zeit zu beanspruchen. Die folgenden Tipps helfen Ihnen, ernst genommen und fair behandelt zu werden.
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Informieren Sie sich vorher schon über Ihre Krankheit, um mitreden zu können.
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Sagen Sie »Nein«, wenn Sie das Gefühl haben, es wird über Sie statt mit Ihnen entschieden.
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Suchen Sie nach Unterstützung – etwa von Verwandten, Freunden oder Profis.
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Dokumentieren Sie alles, falls Ihnen Fehlbehandlung oder Diskriminierung widerfahren.
Tipp 7: Jonglieren Sie nicht mit Fachbegriffen
Hilft medizinische Fachsprache? Sollte ich vor dem Arztbesuch »Grey’s Anatomy« gucken? Die kurze Antwort lautet: Nein, in der Regel nicht. Und das hat mehrere Gründe.
Medizinische Fachsprache hat ihren Platz in der Kommunikation unter Fachleuten. Für Laien ist sie aber oft unverständlich und kann zu Fehlinterpretationen und Missverständnissen führen.
Schlagwörter wie »Angina pectoris« und »Tachykardie«, die im Internet und in Krankenhausserien aufgeschnappt und wiederholt werden, können sogar von der richtigen Diagnose ablenken. Denn nicht jedes Ziehen und Zwicken ist gleich ein Brustschmerz, der auf einen Herzinfarkt hindeutet. Daher ist es sinnvoller, die Symptome so genau wie möglich in eigenen Worten zu beschreiben.
Fachbegriffe sind für Ärztinnen und Ärzte weder beeindruckend, noch erwarten wir eine Fallvorstellung auf Latein. Wichtig sind Ehrlichkeit und Sicherheit.
Tipp 8: Suchen Sie sich die Richtigen – auch im Internet
Die Verfügbarkeit von medizinischen Informationen im Internet ist ein Segen. Patientinnen und Patienten können sich über ihre Erkrankungen informieren und so ihre Behandlung besser mitgestalten. Auch ich kläre als @gynaekollege auf Social Media Hunderttausende Menschen auf. Dabei merke ich, wie häufig Informationslücken und Unzufriedenheit im Praxisalltag sind. Social Media ist jedoch nicht nur Informationsquelle, sondern auch ein mächtiges Kommunikationsinstrument.
In den vergangenen Jahren teilten Tausende Frauen in Tweets und TikTok-Videos ihre schmerzhaften Erfahrungen beim Einsetzen einer Hormonspirale. Der Content zu Verhütungsthemen wurde wissenschaftlich ausgewertet, Forschende sehen darin eine »wertvolle Quelle«. Kürzlich veröffentlichte Leitfäden in den USA und Deutschland empfehlen inzwischen, beim Einsetzen der Spirale eine angemessene Schmerztherapie zu verwenden.
Die Internetrecherche hat aber auch Schattenseiten. Die Informationsflut ist überwältigend. Oft ist es schwierig, seriöse von unseriösen Quellen zu unterscheiden.
Damit Ihnen die Google-Recherche keine unnötige Angst macht und die Behandlung bremst, prüfen Sie bitte Folgendes:
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Stammen die Informationen von staatlichen und unabhängigen Bildungsinstitutionen, Krankenkassen oder Ärztinnen oder Ärzten? Das spricht für seriöse Quellen.
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Wird versucht, Ihnen Dienstleistungen oder Produkte zu verkaufen? Werden Botschaften verstärkt in Superlativen formuliert? Das spricht eher für unseriöse Quellen und windige Motive.
Tipp 9: Entscheidend sind Sie – stehen Sie für sich ein
Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie missverstanden, falsch behandelt oder diskriminiert werden, sprechen Sie es an und holen Sie sich Hilfe. Unter anderem können Sie sich an folgende Stellen wenden:
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Das Beschwerdemanagement des jeweiligen Krankenhauses/der Praxis,
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Unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD),
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Kassenärztliche Vereinigungen (KV),
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Ärztekammer des Bundeslandes.
Fazit
Das ärztliche Gespräch sollte keine herablassende Demonstration von Macht sein, sondern eine neutrale Aufklärung auf Augenhöhe; ein konsensueller Therapievorschlag für eine selbstbestimmte Behandlung.
Befürchten Sie aus Nervosität, Angst oder aufgrund diskriminierender Strukturen, keine adäquate Beratung und Behandlung zu erhalten, kann es helfen, sich vorher über Ihre Rechte als Patientin oder Patient zu informieren und Unterstützung mitzubringen.
Ärztinnen und Ärzte sind auch nur Menschen. Wichtig sind immer offene, ehrliche Kommunikation und Respekt.